Die spektakulären Flugmanöver eines Düsenjets haben durchaus etwas Tänzerisches: Wie sie steil hinaufsteigen, um dann wieder hinabzustürzen, wie sie zur Seite wegkippen, sich auf den Kopf drehen oder in Formation fliegen, mutet ebenso schwerelos und elegant an, wie die Sprünge und Figuren graziöser Balletttänzer. Aber die Gemeinsamkeiten zwischen beiden enden dann auch bei dieser oberflächlichen Betrachtung. Tanz verbinden wir mit Musik, mit Freude, Lebenslust und Unbeschwertheit. Bei einem Düsenjet denken wir hingegen unweigerlich an Krieg, Zerstörung und Tod. Thomas Zanders‘ Lebenslauf stellt insofern die ungewöhnliche Verbindung zweier diametral entgegengesetzter Extreme dar: Nach zwei Jahrzehnten als „Waffensystemoffizier“ beendete er seine Bundeswehrkarriere – und wurde Tanzlehrer.
Die Situation erinnert an eine Szene in einem Spionagefilm: Thomas und ich sitzen uns an einem Holztisch gegenüber, mitten auf der großen Tanzfläche des hell erleuchteten Tanzstudios im Zentrum von Tönisvorst. Später, im weiteren Verlauf des Gesprächs, bekommt das Arrangement noch einmal besondere Relevanz. Nämlich als Thomas von einem Lehrgang berichtet, in dem seine Gefangennahme und das Verhör durch den Feind simuliert wurden. Ein Interview ist einem Verhör ja eh nicht ganz unähnlich – wenn es auch einen deutlich freundlicheren Hintergrund hat. Aber entgegen der Konstellation drehen sich die Vorzeichen an diesem Tag schon relativ schnell: Thomas hat viel zu erzählen von seiner spannenden Laufbahn – und ich muss mich anstrengen, ihm dabei zu folgen und meine vorbereiteten Fragen unterzubringen. Die Vorstellung, hier und heute auf jemanden zu treffen, der sein Leben von Grund auf verändert hat, ein neuer Mensch geworden ist und nun vielleicht mit Unverständnis, Reue oder Scham auf sein früheres Dasein blickt, bewahrheitet sich nicht. Vor mir sitzt ein Mann, der die Einheit im Widerspruch seiner beiden Lebenshälften gefunden hat.
„Ich wollte fliegen“, antwortet Thomas kurz und klar auf die Frage, was ihn dazu veranlasste, sich als junger Mann bei der Bundeswehr zu verpflichten. „Passagierflugzeuge zu fliegen, fand ich nicht so aufregend, das erschien mir wie Busfahren. Ich wollte in einen Tornado!“ 1987, mit 19, wird der gebürtige Hülser eingezogen. Er verpflichtet sich und durchläuft die diversen Eignungstests, Gesundheitschecks sowie die anspruchsvolle Ausbildung zum Waffensystemoffizier, dem „Beifahrer“ des Piloten, der die Kommandos gibt und für die Waffensysteme zuständig ist. „Bei uns gab es dazu die Redewendung ,Vorn lenkt, hinten denkt´“, lacht Thomas. Auch wenn er am Ende seiner Ausbildung also nicht derjenige ist, der am Steuerknüppel des Tornados sitzt, gehört er doch zum Zweierteam, das für den Betrieb jeder Maschine verantwortlich ist. Und damit ist er Vertreter einer überaus seltenen Spezies. „Es gab in Deutschland etwa 350 Tornados. Bei der Offizierbewerberprüfung fuhren vier Busse voller Kandidaten vor. Die, die am Ende übrig blieben, füllten nicht einmal einen“, grinst er verschmitzt. Was er in seinem ersten Leben erreicht hat – vor allem, dass er erreicht hat, was er sich so sehr gewünscht hatte – erfüllt ihn immer noch mit Stolz, das spürt man. Und was er erlebt hat, hat ihn geprägt. „Das Gefühl, in diesem Flieger zu sitzen, zu zweit mit bis zu 1.000 Stundenkilometern im Tiefflug und in völliger Freiheit, ist nicht adäquat zu beschreiben“, versucht er, die Faszination in Worte zu fassen. „Im Cockpit tritt alles andere in den Hintergrund. Wie gefährlich die Manöver waren, die wir teilweise geflogen sind – auf dem Kopf in nur 100 Metern Höhe über dem Erdboden oder im Formationsflug mit nur zwei Metern Abstand zum Nebenmann, wo jeder Fehler fatal gewesen wäre –, habe ich selbst erst begriffen, als ich später Videoaufnahmen davon gesehen habe. Man ist so konzentriert, dass man das gar nicht wirklich mitbekommt.“ Die Kräfte, die der Körper sowohl aushalten als auch ausüben muss, wenn 4G auf ihn einwirken, sind enorm.
Als Thomas Ende der Achtzigerjahre seine Laufbahn begann, endete gerade erst eine Phase, in der die Bedrohung eines möglichen Nuklearkriegs noch einmal sehr konkret geworden war. „Ich habe damals nicht wirklich darüber nachgedacht“, gesteht er, „ich wollte einfach fliegen – und das ging eben nur bei der Bundeswehr. Die Gefahr, als deutscher Soldat in einen bewaffneten Konflikt verwickelt zu werden, war zugegebenermaßen deutlich kleiner als heute. Ich wurde mir erst im Lauf der Zeit bewusst darüber, was wirklich meine Aufgabe war und was das bedeutete. Im Falle des Falles wäre ich derjenige gewesen, der vernichtende Bomben über fremdem Territorium hätte abwerfen müssen. Es hilft nichts, sich da etwas vorzumachen. Das war der Job und ich hätte ihn erledigt. Aber ich bin heilfroh, dass es nie dazu gekommen ist. Wer weiß, was es mit mir gemacht hätte.“
Das Ende seiner Zeit bei der Bundeswehr läutet er trotz seiner Begeisterung und Freude am Job und am Fliegen schon relativ früh ein: 1993 lernt Thomas seine Frau Melanie kennen, mit der er heute die Tanzschule Doctor Beat leitet. Sie stützt auch seine Entscheidung gegen eine längerfristige Laufbahn beim Bund. „Der Schreibtisch hat mich nie gereizt, ich wollte immer machen, also blieb ich Arbeitsbiene und wurde zunächst Lehrer für junge Piloten und Waffensystemoffiziere. Als Standardisierungsoffizier war ich so etwas wie ein Polizist des Geschwaders. Und wenn ich gewollt hätte, hätte ich jederzeit hinten in den Flieger einsteigen können, um bei einer Mission mitzufliegen“, lacht er. In den späten Neunziger- und frühen 2000er-Jahren verändert sich die außenpolitische und militärische Rolle Deutschlands angesichts der Konflikte im Kosovo und in Afghanistan. „Ich sagte meinem Vorgesetzten, dass ich dahingehe, wo er mich hinschickt, aber dass ich diese Wahl nicht selbst treffen werde. Er behielt mich dann zu Hause“, erinnert er sich. „Aber ich weiß, wie das ist, einen Kameraden zu verlieren. Ein Freund verunglückte bei einem Manöver. Und ich saß am nächsten Tag wieder im Cockpit. Das gehörte dazu.“ Einmal verkrachte er sich unmittelbar vor einer Übung mit einem Kameraden. Als sie sich nach der Landung auf dem Rollfeld wiederbegegneten, war beiden klar, dass sie niemals hätten abheben dürfen. „Wenn du nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht klar denkst, kann das im Tornado den Tod bedeuten“, resümiert Thomas.
2008 endet seine Karriere bei der Bundeswehr, und er beginnt die dreijährige Ausbildung zum ADTV-Tanzlehrer. „Als junges Besatzungsmitglied ist man häufig draufgängerisch und risikobereit. Viele haben das Messer quer sitzen“, erläutert er. „Wenn man älter wird, kompensiert man das nicht mehr ganz so quer sitzende Messer mit Erfahrung. Aber dann kommt irgendwann der Punkt, wo man nicht mehr an seine Grenzen gehen kann oder will. Bei den meisten passiert das, wenn sie eine Familie gründen und Kinder bekommen. Ich habe zu einem Zeitpunkt aufgehört, als ich noch gut war. Deswegen habe ich durchweg positive Erinnerungen an diese Zeit.“ Melanie zieht ihn manchmal damit auf, dass der Soldat wieder durchkomme, wenn er seine Schüler mit freundlichen Tanzkommandos anweist. Auch seine akribisch geführten Wochenpläne lassen noch den alten Kommisskopp durchscheinen, der seine Staffel in Schuss halten muss. „Die Zeit bei der Bundeswehr war sehr wichtig für mich. Dazu stehe ich. Ich habe damals auch gemerkt, dass ich ein guter Lehrer bin. Ich helfe Menschen gern dabei, etwas zu erlernen oder noch besser zu werden“, sagt er ganz gerade heraus. Aber in einem ganz wesentlichen Punkt hat sich sein Leben dann doch erheblich verändert: „Wenn du ins Cockpit steigst, muss alle Emotion draußen bleiben. Egal, wie es dir gerade geht. Tanz hingegen ist in Bewegung überführte Emotion. Er lebt davon, alles das herauszulassen, was in dir drin ist. Es geht nicht darum, Regeln zu befolgen, sondern vor allem darum, dich gut zu fühlen und Spaß zu haben.“ Was das heißt, zeigt er im anschließenden Lindy Hop mit Ehefrau Melanie. Das Verhör ist beendet. Der Tanzlehrer strahlt über das ganze Gesicht, mit seiner Partnerin voll im Hier und Jetzt, aufgelöst in der Musik. Der Waffensystemoffizier ist ins Cockpit gestiegen, abgehoben und weggeflogen. Und das einzige, was jetzt noch knallt, sind klatschende Hände und Absätze auf dem Parkett.
[…] – und hoffen, damit Ihren Geschmack zu treffen. So haben wir uns in dieser Ausgabe mit dem Tanzlehrer Thomas Zanders über seine ungewöhnliche Laufbahn unterhalten: In einem frühen Leben war er […]